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Glück und Verantwortlichkeiten

Die vergangenen Wochen haben uns alle, meine Familie und mich, sehr geprägt. Noch nie habe ich so lange Zeit am Stück das Gefühl gehabt, allein da zu stehen, während mich ein Moment, eine seelische Katastrophe nach der anderen überrollt. Noch nie habe ich so viel Kälte, Dunkelheit und Verzweiflung verspürt. Düster? Ja. Einsam? Ja.

Aber im gleichen Maße habe ich noch nie so viel unerwartete, herzliche und echte Hilfsbereitschaft – meine persönliche Lebenssituation betreffend – erlebt. Noch nie bin ich so vielen Menschen begegnet, bekannte und unbekannte, die mir auf irgendeine Weise ihre Hilfe anboten. Sei es durch kostenlose Urlaubsauszeit in einem Ferienhaus, durch Bierbänke, Kuchen, Käsespieße, Kinderbetreuung, Angebote zur Haushaltsunterstützung oder Erleichterung beim nächsten Großeinkauf. Ich bin überwältigt und unendlich dankbar. Und während ich das hier schreibe, bildet sich ein dicker Kloß in meinem Hals und Tränen machen das Verfolgen der getippten Buchstaben schwierig.

Ich lernte Hilfe anzunehmen und übe mich darin, es weiterhin zu tun. Komischerweise fällt es mir viel leichter selber zu helfen und da zu sein, als das Gegenteil auszuführen – aber wie gesagt, ich übe.

Viele Sätze, neue Gedanken und Lebenseinstellungen sind mir die vergangenen Wochen durch den Kopf gegangen. Ein Satz, der mich bis heute nicht loslässt und den ich versuche auf die richtige Weise in mein Leben einzuordnen, lautet:

Ich bin nicht für das Glück des anderen verantwortlich.

Mich macht zum Beispiel das Bild des Beitrags glücklich, aber das ist jetzt eigentlich noch nicht das Thema. Ich weiß nicht, wie ihr zu diesen Worten steht: Ich bin nicht für das Glück des anderen verantwortlich. Geht es bei euch mehr um den anderen oder das verantwortlich sein, das euch gefällt oder aber auch missfällt? Oder um beides? Stimmt das oder eher nicht?

Bislang dachte ich immer, nicht zu „dieser Sorte Mensch“ zu gehören, die sich für den anderen völlig aufgibt. Dafür sah ich mich viel zu emanzipiert und bewusst im Leben stehend.

Tja, weit gefehlt! Als ich die Worte das erste Mal hörte, begann ich zu argumentieren: Natürlich bin ich verantwortlich. … Meine Kinder. Mein Mann. … Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass dieser Satz Wahrheitsgehalt besitzen könnte. Vielleicht weil ich merkte, dass es einen Teil meiner bisherigen scheinbaren Grundfeste ankratzte, mehr noch: erschütterte. Ich sah mich verantwortlich. Nicht nur für meine Kinder und meinen Mann. Insbesondere für ihr Glück. Ich gehörte also zu den Menschen, bei denen ich in meinem unmittelbaren Lebensumfeld immer beobachtete, wie sie sich für den anderen und dessen Glück völlig aufgaben. Sich selber aus dem Blick verloren und das eigene Glück gegen das scheinbare Glück des anderen eintauschten. Ich spule nochmal zurück.

Glück und Unglück

Was ist das eigentlich? Glück? Unglück ist klar: Das Gegenteil von Glück. Aber was ist Glück? Ein erfülltes Leben? Ein Leben bestimmt von Zufällen? Ein Leben, das nur Lachen beinhaltet? Vielleicht geht Glück tatsächlich in die Richtung von Erfüllt-Sein und Zufriedenheit. Für jeden besitzt dieses Glück vielleicht auch unterschiedliche Facetten und Nuancen. Für den einen ist Glück der perfekte Job, für den anderen Gesundheit und für wieder einen anderen die große Liebe und eine intakte Familie. Es hat also irgendwie was mit dem zufrieden sein über den Verlauf und Zustand des eigenen Lebens zu tun.

Verantwortlichkeit

Der Versuch zwischen Verantwortlichkeit und Verantwortung zu unterscheiden, ist mir leider nicht gelungen, obwohl ich das subjektive Gefühl hatte, dass es sich bei Verantwortlichkeit um eine noch mehr auf die jeweilige Person bezogene Verantwortung liegen könnte. Grundsätzlich meinen beide Begriffe dass einer Person eine bestimmte Pflicht zugeordnet werden, die diese gegenüber einer anderen Person oder Sache zu erfüllen hat. Beides, die Pflicht und deren Erfüllung besitzen einen normativen Anspruch, der sogar durch eine höhere Instanz bestätigt werden kann.

So, und jetzt mal ehrlich: Vor wem habt ihr zu rechtfertigen, dass eure Kinder oder Partner oder Eltern glücklich sind? Wer kontrolliert – mit Recht – , ob ihr die Miteltern in der Schule, Nachbarn oder Freunde oder irgendwelche anderen Menschen glücklich macht?

Ich bin nicht für das Glück des anderen verantwortlich

Für mich ist das in den vergangenen Wochen ein sehr heilsamer Satz gewesen. Noch immer befinde ich mich voll im Bearbeitungsmodus. Das hier sind also noch nicht meine vollendeten Gedanken zu diesem Satz. Vor allem habe ich sie noch nicht voll und ganz in meinem Leben umgesetzt. Doch ich stelle fest:

  1. In dem Satz liegt Wahrheit.
  2. Ich habe tatsächlich so gelebt. (Was ich nicht gedacht hätte.)

An dieser Stelle möchte ich gerne noch unterscheiden. Natürlich ist es mir ein großes Anliegen, meine Kinder und meinen Mann glücklich zu sehen und glücklich zu machen. Und natürlich bin ich für meine Kinder und deren Handlungen in einem gewissen Maß verantwortlich, da mir die elterliche Sorge obliegt. Nichtsdestotrotz bin ich nicht für ihr Glück verantwortlich.

Um Umkehrschluss würde das außerdem bedeuten, auch für ihr Unglück Verantwortung zu tragen. Wie anmaßend, oder nicht? Anmaßend, mich als diejenige zu sehen, die über das Glück oder Unglück des anderen entscheiden könnte.

Nicht verantwortlich für das Glück des anderen

Für mich bedeutet dieser Satz vor allem Freiheit. Mein Mann und auch meine Kinder, letztere zunehmend mehr – je älter sie werden -, sind diejenigen, die ihr Glück in der Hand haben.

An wievielen Stellen ich mich letztlich immer und überall als verantwortlich gesehen habe – das geht auf keine Kuhhaut. Vor allem habe ich mich pausenlos schuldig gefühlt. Denn das Umsetzen des Glücks der anderen wurde zunehmend schwieriger und blieb in den massiven Erschöpfungszuständen sogar ganz aus.

Bei K2 und K3 geht das ja noch ganz gut. Auch die anderen beiden Männer weiß ich glücklich zu machen. Jedoch treffen sie im Leben ihre eigenen Entscheidungen. Und damit, mit diesen Entscheidungen, sind sie auch mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen konfrontiert. Tja, und wie das so ist, bringt nicht jede Entscheidung oder Handlung immer das pure Glück mit sich. Kennen wir alle.
Dennoch fühlte ich mich mitverantwortlich. Für ihr unglücklich sein… Dabei bestimmten sie doch selber.

Nochmal der Hinweis: Es ist ein Unterschied, ob ich empathisch mitleide oder aber nach der Ursache des Traurigseins in mir oder einer meiner Entscheidungen suche.

Lebensumfeld

Ging es erst um unser familiäres System stellte ich schnell fest, dass ich mich an vielen Stellen für das Glück der anderen verantwortlich fühlte. Je mehr ich zu diesen Feststellungen kam, umso mehr schüttelte ich über mich selber den Kopf.

Wie konnte ich es zulassen, mich im wahren Leben so intensiv um die Belange der anderen zu kümmern? Wieso hat mich keiner von ihnen mal darauf hingewiesen? Haben sie das vielleicht? Durch Sätze, wie: Meinst du nicht, dass das ein bisschen viel ist? Ja, diese Hinweise gab es, wenn auch von den wenigstens. (Schließlich saß ich ja Zuhause und hatte Zeit…)

Bei vielen Dinge sind wir vermutlich einfach froh, wenn ein anderer es macht: Sei es irgendein Amt in der Schule oder als ehrenamtlicher Mitarbeiter in einem Verein, damit eine bestimmte Gruppe für die Kids fortbestehen kann. Manchmal sind es auch lediglich die Befindlichkeiten anderer Menschen, mit denen ich im Alltag zu tun habe, von denen ich gelernt habe, mich abzugrenzen.

Reduziert Leben in Beziehungen

Ich habe mich vor diesem Punkt des Minimalismus immer ein wenig gedrückt. Ich mag soziale Interaktionen und Beziehungen zu Menschen. Wieso sollte ich an so einer Stelle kürzen?

Meine Antwort heute: Damit ich mich nicht selbst verliere. Das ist nur meine persönliche Antwort. Und wie weit und gut ich das im Leben inzwischen schon umzusetzen weiß, nehme ich vermutlich anders wahr als jemand von außen. Aber ich merke, dass ich in den letzten Wochen und Monaten Beziehungen bewusst abgebrochen und beendet habe. Ich will das einfach nicht mehr.

Meist hat sich herausgestellt, dass es sehr einseitige Beziehungen gewesen sind. Beziehungen, in die ich viel investieren wollte und habe, aus denen aber so gut wie nichts entsprang. Außer krasse Erwartungen oder Ignoranz, Verletzungen oder Desinteresse oder lediglich der Umstand, dass es mir nach einem Kontakt zu diesem Menschen, schlecht ging.

Menschen, die wirklich Interesse an dir haben, werden in diesen Augenblicken wieder sichtbar. Du nimmst sie erst dann wahr, wenn du dich nicht pausenlos um diese anderen Personen drehst, denen du selber eigentlich recht egal bist. Das hört sich härter an, als es gemeint ist, aber so empfinde und empfand ich in den vergangenen Monaten.

In Freiheit Leben gestalten

Bevor ich diesen Artikel nun einfach enden lasse, hier nochmal ein kurzer gedanklicher Überblick. In meinen engen Beziehungen, zu meinem Mann und unseren Kindern, stellte ich fest: Ich bin nicht für das Glück der anderen verantwortlich. Auch wenn ich aus Liebe immer daran arbeiten werden, dass sie Glück erleben können. Dabei stellte ich fest,

  1. dass ich mich zutiefst schuldig fühlte, dass sie aktuell sowas wie Unglück erlebten und
  2. dass ich in meinen sonstigen Kreisen genauso lebte.

Seitdem diese Erkenntnis in mein Herz sickert, löse ich mich von diesen durchaus seelisch belastenden und krankmachenden Beziehungen und falschen Verantwortlichkeitsvorstellungen und erlebe Freiheit.

Ich bin wieder frei, Leben zu gestalten und lerne mich mehr abzugrenzen, was mir und meiner Seele gut tut und zu weniger unguten Beziehungen beiträgt.

Wie habt ihr bisher das eigene Glück und das der anderen erlebt und gelebt?

6 Gedanken zu „Glück und Verantwortlichkeiten“

  1. Ich habe jahrelang gebraucht, bis ich endlich verstanden habe, dass es kein Luxus ist, dass ich mich gezielt und bewusst, um das Aufladen der persönlichen Akkus bemühe. Mich gezielt z.B. als Teilnehmerin einer Gruppe anmelden, in der ich mal so für gar nichts zuständig bin – ausser für mich. Bei mir funktionierte das mit Musik sehr gut, aber geht auch mit nicht leistungsorientiertem Sport. Glück war dann für mich zu erleben, wie dadurch ein neues Beziehungserleben möglich wird. Und Glück ist auch für mich, wenn ich sehe, wie die mir anvertrauten Menschen selbstbewusster und stärker werden, indem ich sie begleite, da bin, aber Ihnen das eigene Leben, die eigene Verantwortung nicht abnehme.

  2. Liebe Rage,
    Danke für diesen langen Beitrag, der für mich zu einer passenden Zeit kommt. Für mich stand immer fest, dass ich in Teilzeit wieder arbeiten möchte, weil es mir wichtig ist, und jetzt funktioniert die Eingewöhnung gerade nicht und ich war wütend und wütend und enttäuscht und hab mich gleichzeitig sehr schuldig gefühlt, weil ich unbedingt arbeiten möchte und nicht denke: Geil, kann ich noch mehr Zeit mit meinem Kind verbringen. Ich war sogar wütend, weil ich mich so gut gekümmert hab, dass mein Kind jetzt so sicher und gut gebunden ist, dass es sich nicht trennen kann/möchte.
    Eigentlich was Gutes,
    Ich werde auch zuhause bleiben, wenn es sich als nicht anders machbar herausstellt und das Beste daraus machen. Dein Artikel bestärkt mich aber auch darin, dass ich eben Verantwortung für mein Kind und mich trage. Für die Bedürfnisse von uns beiden. Ich bin auch wichtig und muss nicht eine selbstlose Mutter werden.
    Wobei ich natürlich mein Kind nicht in Betreuung gebe, wenn es sich dort nicht wohlfühlt. Aber ich darf eben auch traurig und wütend sein, weil ich mir was anderes gewünscht habe. Dafür muss ich keine Scham empfinden.

    Übrigens warst du heute mein Beispiel für beide Optionen zuhause bleiben und die des Arbeiten gehens (eine Teilmotivation ist, die finanzielle Last auf vier Schultern zu verteilen, den Mann entlasten).
    Ich drücke euch und wünsche euch alles Gute! Dir und deinem Männerhaushalt :D

  3. Guten Morgen!

    Das war heut MEIN Artikel zum Frühstück! ;-) Danke dafür, hat mir geholfen auch mich selbst zu reflektieren! Auch deine Erkenntnis das man für Freundschaften und deren Glück NICHT zuständig ist hat mir sehrrrrr weitergeholfen, jetzt ist bei mir einiges klarer! Dankeschön <3

    LG

  4. Liebe Rage, solche Artikel schreiben fällt bestimmt nicht leicht, aber es ist wirklich interessant, sich selbst zu beobachten und wahrzunehmen, was das Lesen Deiner Worte und die Gedankengänge drumherum mit einem machen, wie man sein eigenes Handeln und Denken reflektiert. Danke, dass Du das mit uns teilst und alles Gute Dir und Deinen Lieben

  5. „Ich bin nicht zuständig.“ „Es ist nicht meine Baustelle.“ „Mein Kind ist nicht mein Körperteil.“ Muss mir das immer wieder sagen. Kann mich schlecht abgrenzen. Da war neulich ein schönes Beispiel in einem Forum: Die alten Eltern haben ihr Lebenswerk nicht geschafft, Umbau eines Hofs und meinen nun, die drei erwachsenen Kinder kämen mit Partnern zur Finanzierung und Umbau. Herrlich! Die wollen ins Ausland, promovieren, haben Kinder und andere Lebensziele und Verpflichtungen. An so Beispielen merkt man es dann. Im eigenen Leben etwas schwieriger. Wenn jeder für sich selbst sorgen würde, ginge es der Welt besser. Deswegen muss ich jetzt wieder in die Gartenliege Siesta. Produkttest in eigener Sache. Brauche ich auch eine? Oder will ich die nur haben?

    Lg Tanja

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